Zwölf Bordeaux von 1966
Der Fluch der späten Geburt. Als ich anfing, mich ernsthaft für Wein zu interessieren, war gerade der Jahrhundert-jahrgang 2000 an die Subskribenten ausge-liefert und in tief ausgeschachteten Kellern weggeschlossen worden. Die Preise für Bordeaux kannten fortan auf Jahre hinaus nur noch eine Richtung. Wer schlau gewesen war und bereits alt genug, um über das nötige Kleingeld zu verfügen, hatte sich in den 80ern und 90ern eingedeckt und kann heute schön gereifte Weine aufziehen, deren aktuelle Jahrgänge unerschwinglich geworden sind. Den Nachgeborenen erzählt man währenddessen die Geschichte, wie man seinerzeit die Kiste 90er Montrose für 29 DM/Flasche gekauft hat. Jajaja…
Man kann aber auch Glück haben und Menschen kennen, die den Enthusiasmus, den nötigen Schuss Irrsinn und die Verbindungen mitbringen, um Proben mit Weinen aus diesen goldenen Vorzeiten zu organisieren. Wenn man nett zu diesen Leuten ist, wird man auch mal zu einer solchen Probe eingeladen und kann den Fluch der späten Geburt für einen Moment außer Kraft setzen. Rainer und ich kennen so jemanden und waren nett zu ihm.
Angekündigt waren diesmal 12 Flaschen aus dem Jahr 1966, vom linken und vom rechten Ufer, unter optimalen Lagerbedingungen gehegt und gepflegt, vor vier Monaten an den Probenort verbracht und seitdem nicht wieder bewegt. Drei davon als Magnum, die Füllstände bei allen einwandfrei. Dekantiert wurde natürlich nicht, nur am Beginn des Abends wurden vorsichtig die Korken (bzw. das, was davon übrig war) herausoperiert. Vorweg zum Kalibrieren des Geschmackssinns einen vergleichsweise jugendlichen Wein 0.
0. Chateau du Piras, Premières Côtes de Bordeaux, 1998
Mittelintensive, klassische Bordeaux-Nase: straighte rote Frucht, Sauerkirsche, Hollunder, dahinter Cassis, leichter Anflug von pilzigen Noten. Im Mund säurebetont und frisch, saftig und rund, ordentliche Tannine, aber verhältnismäßig belanglos. Im Abgang etwas bitter und recht kurz. 80/81 Punkte.
1. Chateau L’Hermitage, St. Emilion Grand Cru, 1966
Wir begannen am rechten Ufer. Eine „bräunliche“ Nase, etwas Süße, Pflaume, leicht karamellig, viel Laub, verhaltene Kräuterwürze. Im Mund fällt sofort die Säure auf, die auf dem schmalen Grat zum Säuerlichen balanciert, aber noch das Gleichgewicht hält; eine etwas morbide Fruchtsüße, viele tertiäre Noten mit Laub und Pilzen, etwas Liebstöckel und welke Kräuter, durchaus eine gewisse Länge, es fehlt ihm jedoch an Tiefe. Wir fühlen uns auf unsicherem Terrain und geben 83/84 Punkte.
2. Chateau La Gaffelière, St. Emilion Premier Grand Cru, 1966
Deutlich kräftigere Nase als Wein 1, richtiggehend voll, noch immer eine deutliche Frucht (Kirsche, Cassis und Pflaume), Pfeffer, eine Spur Stall; der Eindruck im Mund fällt ein wenig gegen die Nase ab, eine kräftige Säure, leichte Fruchtüberreste von Kirsche und Cassis, tertiäre Noten, die aber nicht ganz so dominant daherkommen wie beim L’Hermitage, etwas Salz. Spürbar mehr Tiefe. 85/86 Punkte.
3. Chateau Canon-La Gaffelière, St Emilion Grand Cru, 1966
Hier hat das Alter zugeschlagen. In der Nase Sherry-Noten, Rosinen, süßer Tabak, sehr oxidativ, obwohl der Korken in Ordnung war. Auch im Mund Sherry, Reste einer Kirschfrucht, Säure, Liebstöckel, fast tot. 77/78 Punkte.
Mit diesem ersten Flight hatten wir unsere Schwierigkeiten. Natürlich erwarten wir bei Weinen, die älter sind als wir selbst keine spritzige Frische, die Säure stand uns hier jedoch grundsätzlich ein wenig zu sehr im Mittelpunkt, die Tertiäraromen hatten vollständig die Herrschaft übernommen. Vielleicht lag’s am Merlot? Schaun wir mal, was das linke Ufer noch drauf hat.
4. Chateau Fontesteau, Haut-Médoc Cru Bourgeois, 1966
Eine sonderbare Nase. Erdnüsse, Pilze, dunkle, Schokolade und ein ziemlicher Kellermuff, fast Schimmel. Bei diesem hier ist im Mund die Säure nun endgültig gekippt, ein wenig Kirsche noch und Laub, aber alles in allem drüber. 79 Punkte gibt ihm Rainer, von mir gibt’s dafür nur 76.
5. Chateau Lagrange, St. Julien Troisième Cru Classé, 1966
Ah! Eine tolle Nase! Süßkirsche, Pflaume und Cassis, Pilze, Kaffee, ein ganz leichter, aber überhaupt nicht störender Touch Rumtopf. Auch im Mund eindeutig der lebendigste Wein bisher, elegant, fruchtsüß, Cassis, mit Säurespiel, Rauch und einer gewissen Tiefe. Langer Abgang auf der Schokolade. Doch auch hier zeigt sich die Tücke des Alters: Innerhalb von Minuten bricht dieser Wein im Glas zusammen, wird dünner und kehrt die Säure immer stärker hervor. Dennoch 90 Punkte von mir für die ersten zwei Minuten, Rainer gibt ihm immerhin 87.
6. Chateau Boyd-Cantenac, Margaux Troisième Cru Classé, 1966
Dieser Wein wurde aus der Magnum serviert. Hätten wir ihn blind ins Glas bekommen, wir hätten ihn als gut erhaltenen Bordeaux aus den frühen 80ern eingeschätzt! Lebendig in der Nase, harmonisch und facettenreich, fast ätherisch, mit Kirschfrucht und animalischen Noten. Im Mund Laub, Kirsche, eine höchst elegante Struktur, Fleisch und schwarzer Tabak. Feine Säure und weiches Tanningerüst, langer Abgang mit schöner Süße vom Fruchtextrakt. Ein Wein in einer tollen Verfassung, mit Tiefe, Kraft und Vitalität! 92/93 Punkte.
Mit diesem zweiten, bunt gemischten Flight vom linken Ufer sind wir in der Probe angekommen. So kann’s weitergehen! Auf nach St. Estèphe.
7. Chateau Cos d’Estournel, St. Estèphe Deuxième Cru Classé, 1966
Bei dieser Flasche handelte es sich um eine Händlerabfüllung. In der Nase wieder so ein Jungspund, intensiv und vielschichtig, mit Heidelbeere, Hollunder und Brombeere, neben den frischen Noten auch etwas Leder, Gewürze, Marzipan, Schokolade und Tinte. Im Mund eine agile Säure, Kirsche und Cassis, wieder Leder, ganz leichter, nicht störender Stall, ganz dezent bittere Noten, und ein langer Abgang. Herrlich! 91/92 Punkte.
8. Chateau Cos d’Estournel, St. Estèphe Deuxième Cru Classé, 1966
Hier nun zum Vergleich die Chateau-Abfüllung. Leiderleider Kork, doch nicht so schlimm, dass die Größe des Weines nicht mehr erkennbar gewesen wäre. Hier ist halt Phantasie gefragt! Die Frucht in der Nase gezehrt, etwas Wacholder, fleischig, Graphit, die mineralische Struktur steht. Im Mund eine kräftige, lebendige Säure, die Frucht leider vom Kork aufgezehrt, eine schöne, kraftvolle Struktur mit einer schmerzlichen Lücke. Langer Abgang. Trotz Kork immer noch 89 Punkte von mir.
9. Chateau Montrose, St. Estèphe Deuxième Cru Classé, 1966
Die zweite Magnum des Abends. In der Nase Liebstöckel, trockene Kräuter, rosinig und oxidiert. Im Mund eine ordentliche Struktur, mit schöner Säure, Kraft und Länge, aber leider eben aufgrund der oxidativen Noten nicht mehr wirklich schön. 79 Punkte. Das Erstaunliche an diesem Wein war sein überraschendes Comeback am nächsten Abend. Die oxidativen Töne in der zweiten Hälfte der Magnum deutlich zurückgebildet, die Struktur noch immer intakt, nun mit einer angedeuteten Kirschfrucht. 85 Punkte immerhin von mir.
Als letzten Flight gab es dreimal Ducru-Beaucaillou: Zwei Standardformate unterschiedlicher Abfüller und eine Magnum. Ein solches Familientreffen wird es vermutlich so schnell nicht wieder geben!
10. Chateau Ducru-Beaucaillou, St. Julien Deuxième Cru Classé, 1966
Mhm! Kräuter und Waldboden, animalische Noten, sehr voll und sehr dicht. Im Mund süße Frucht, Waldbeeren, Pflaume, Kirsche, Pfeffer und Tabak, auch tertiäre Noten wie Laub. Zunächst sehr dicht und mit feinem Säurespiel, fließt dann aber im Verlauf etwas auseinander, nicht ewig lang. Trotz des etwas schwächelnden Verlaufs reden wir hier über 90/91 Punkte.
11. Chateau Ducru-Beaucaillou, St. Julien Deuxième Cru Classé, 1966
Die zweite Flasche hatte leider deutlichen Kork, hier war nichts zu retten. Keine Bewertung.
12. Chateau Ducru-Beaucaillou, St. Julien Deuxième Cru Classé, 1966
Gott sei Dank hatten wir zum Abschluss noch eine Magnum in petto! Obwohl vom gleichen Abfüller wie No. 10, ein ganz anderer Stil. Elegant und trotzdem kraftvoll, Kirsche, Cassis, Brombeeren und reife Pflaume, leichter Stall, Tabak und Wacholder in der Nase. Frisch im Mund, fast ätherisch, Kirsche, Brombeeren, Pflaume, Pfeffer und Tabak, es fehlen aber gänzlich die dichten Tertiärnoten von Wein No. 10. Eine feine, fast zurückhaltende Säure, ein stattliches Tanningerüst, eine wunderbare Würzigkeit begleitet den super Abgang. 91/92 Punkte.
Nach dem etwas mühsamen Einstieg in die Probe stehen wir am Ende begeistert und verzaubert vom Tisch auf. Bei dieser Aufgabenstellung war von vorneherein klar, dass nicht jeder Kandidat mehr einwandfrei sein konnte – die Eindrücke, die ein lebendiger Boyd, Cos oder Ducru hinterlässt, wiegen aber ganz entspannt jeden oxidativen oder Kork-Ton in anderen Flaschen auf. Einen ganz, ganz herzlichen Dank an Michael, der die Probe zusammengestellt und zu einem großen Teil auch finanziert hat. Wir verdanken dir einen unvergesslichen Abend!